Schulen in der Coronakrise: Warum Empathie von Pädagogen gerade heute so wichtig ist
Zur Zeit dreht sich in der Schule alles um Corona und um die dadurch bedingten Umstände:
Maskenpflicht, Hygienekonzept, Abstandsregelungen, Digitalisierung, Homeschooling / Distanzunterricht, Bereitstellung von genügend Tabletts, funktionierendes Internet usw. Es geht darum, die Schulen irgendwie am Laufen zu halten und eine Schulschließung möglichst zu vermeiden. Ich habe großen Respekt vor allen Schülern und Lehrern*, die unter diesen schwierigen, sich täglich oder wöchentlich verändernden Bedingungen lernen und lehren müssen. Es ist eine schwere Zeit...
Was aber in dieser ganzen Aufregung vollkommen auf der Strecke bleibt, ist die eigentliche Pädagogik, die auch in Corona-Zeiten eine Bindungsbildung bleiben muss. Die Pädagogik sollte stets ein doppeltes Ziel verfolgen: Den Schülern einerseits Fachwissen und Kompetenzen zu vermitteln (Bildungsziel I) und sie zugleich bei ihrem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, Charakter- und Herzensbildung sowie in der Werterziehung zu begleiten – auf ihrem Weg durch ihre Pubertät hin zum Erwachsenwerden (Bildungsziel II). Darin sehe ich unsere eigentliche pädagogische Aufgabe als Lehrer, auch wenn diese nicht so leicht greifbar und messbar ist wie etwa die Versorgung jedes Schülers mit einem neuen Tablett.
Digitalisierung versus Pädagogik?
Was bei der gegenwärtigen Schul-Diskussion jedoch leicht übersehen wird: Unsere Schüler sind eben keine kalten, digitalisierten, nur hirnig ausgerichteten Lernroboter, sondern Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung: in ihrer bisweilen mühsamen und langwierigen Persönlichkeitsbildung. Und das in Zeiten einer als immer unsicherer empfundenen globalisierten Welt, die von Terrorangst, Handelskriegen, einem sich völlig egozentrisch gebärdenden Donald Trump, von der berechtigten Angst ums Weltklima und eben vom Corona-Virus beherrscht wird.
Natürlich wird von uns Lehrern erwartet, dass wir uns der digitalen Entwicklung an den Schulen stellen und die uns anvertrauten Schüler Wissens-fit und Technik-kompetent für die Zukunft in einer sich immer schneller drehenden Welt machen – auch in der Coronakrise, in der die Digitalisierung durch die Notwendigkeit des Homeschooling gerade einen kräftigen Schub nach vorne erfährt. Es gibt immer mehr Stimmen aus der Wirtschaft und der Politik, die die Corona-Krise deshalb letztlich sogar als Glücksfall oder zumindest als Ereignis mit unerwartet positivem Nebeneffekt sehen wollen. Als Pädagoge mit 40-jähriger Berufserfahrung möchte ich jedoch einen leidenschaftlichen Appell an meine Lehrer-Kollegen, sowie an alle Bildungspolitiker und „Lehrplan-Macher“ richten: „Vergesst jetzt die Pädagogik nicht!“
Der Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und Bildungsforscher Professor Dr. Klaus Zierer argumentiert aufgrund vieler Forschungsergebnisse gegenüber diesem falschen Optimismus bezüglich der Digitalisierung in Politik und Wirtschaftskreisen so: „Digitale Technik allein verbessert den Unterricht nicht… Wenn man angesichts von mehr als 40-jähriger Forschung zum Einsatz von digitalen Medien und dem damit verbundenen Ergebnis, dass sie nicht von sich aus wirken, immer noch glauben kann, dass sie Bildungsrevolutionen auslösen oder in Krisenzeiten zum Heilsbringer avancieren, zeugt von pädagogischer Naivität.“ Das gilt auch in der jetzigen Corona-Krise.
Nach Dr. Zierer hat der Digitalisierungsschub in Folge von Corona tatsächlich zu einer Transformation von Schule geführt, jedoch eher in eine negative Richtung. Denn die Schule ist heute seiner Ansicht nach kein Bildungsort mehr, sondern zu einem bloßen Lernort verkümmert, an dem nur noch das unterrichtet wird, was von ökonomischem Interesse ist. Der musische Bereich geht gerade völlig unter und wir steuern nicht nur aus diesem Grund auf eine neue Bildungskatastrophe zu.
Weiche Faktoren in der Pädagogik bleiben gefragt
Man lügt sich auch rein pädagogisch in die Tasche, wenn man in der Digitalisierung – in Smartboards für jedes Klassenzimmer, in Tablets für alle Lehrer und Schüler und in gut funktionierenden Lernplattformen in allen Schulen – das Allheilmittel der Pädagogik und die Zukunft von Schule sieht. Die Corona-Krise macht uns gerade sehr deutlich, worum es in der schulischen Erziehung stets gehen muss. Im Zentrum unseres pädagogischen Denkens darf nicht die Frage stehen: „Haben wir ausreichend Tablets? Sondern die pädagogische Frage schlechthin: Wer ist der Mensch?“
Gerade jetzt in der Corona-Krise sind „weiche“ Faktoren in der Pädagogik mehr gefragt denn je. Darunter verstehe ich vor allem „Soft Skills“ wie Mitgefühl, Liebe und Empathie unseren Schülern gegenüber. Diese Eigenschaften sind entscheidend, auch wenn sie schlecht messbar und schon gar nicht operationalisierbar sind. Gerade in uns Lehrern suchen die Schüler einen Menschen,
- der ihnen neben der Wissensvermittlung Orientierung gibt – auf ihrem Weg durch die Pubertät und hin zum Erwachsensein;
- der ihnen notwendige Grenzen setzt und Leitplanken bietet, wenn sie über das Ziel hinausschießen;
- der Geduld und Mitgefühl zeigt, wenn sie Probleme haben – etwa weil sich die Eltern gerade trennen, eine Beziehung zerbrochen ist, Opa oder Oma gestorben sind oder weil sich ein schulischer Misserfolg eingestellt hat;
- der sie – einem Magier gleich – immer wieder durch seine Fächer, Themen und Projekte begeistern, aufbauen und vor allem emotional erreichen kann;
- der auch im digitalen Zeitalter die Einstellung beherzigt: „Erziehung durch Beziehung“;
- der eben Empathie-fähig ist, einen guten Draht zu ihnen hat und der ihnen in unserer schnelllebigen Zeit ein Anker ist, an dem sie sich immer festhalten können.
Kurzum: Unsere Schüler brauchen im Lehrer vor allem einen Menschen, der ihnen im Klassenzimmer gegenüber steht, der sie liebt, sie als Individuen wahrnimmt, ihnen zugewandt ist und ihnen Mut macht. Diese Einstellung ist um so wichtiger in Zeiten des „digitalen Klassenzimmers“ wie jetzt in der Corona-Krise während des Lockdowns (also bei Homeschooling/Distanzunterricht). Dr. Zierer folgert daher in diesem Zusammenhang: „Wer aus pädagogischer Sicht erfolgreich durch die Krise kommen und vor allem auch aus der Krise lernen möchte, der muss für eine Rehumanisierung der Schule eintreten.“
Julia fühlt sich betrogen
Was damit gemeint sein könnte, wird deutlich, wenn wir eine Stimme einer Betroffenen hören: Julia, 17 Jahre, Schülerin eines Münchner Gymnasiums, gehört dem Abitur-Jahrgang 2019/21 an und will heuer das Abitur absolvieren. Nach einem Beschluss der Kultusminister-Konferenz wird es trotz Corona ein Abitur geben. Gott sei Dank. Aber Julia fühlt sich – so wie viele ihrer KollegInnen auch - um ihre Oberstufe betrogen. Denn sie war im März 2019 gerade am Beginn ihres zweiten Semesters, als die Krise herein brach. Das zweite, dritte und vierte Semester konnte und kann nur unter Corona-Bedingungen stattfinden – mit Lockdowns, Homeschooling, im Distanzunterricht und mit einschneidenden Maßnahmen, falls Unterricht (etwa in Halbkursen mit Maskenpflicht) an der Schule überhaupt erlaubt ist und über die Bühne gehen kann.
Julia vermisst schmerzlich
- den natürlichen sozialen Austausch mit ihren MitschülerInnen;
- die Diskussionen in den Unterrichtsstunden; denn für sie ereignet sich Wissenszuwachs nicht im bloßen Büffeln zu Hause, sondern im lebendigen Unterrichtsgespräch;
- Exkursionen und Studienfahrten;
- die Feste und Feiern während des Schuljahres: Konzerte, Gottesdienste, Sportveranstaltungen, Abiturstreich, Abiturfeier und Abiturball, Vorträge von externen Gästen, Vollversammlungen des ganzen Abiturkurses usw.;
- die Pausen und Freistunden während eines Schulvormittags, in dem zwanglose Kontakte geknüpft, Absprachen auf dem kürzesten Kommunikationsweg geschehen können und in der Schulmensa gemeinsam das Mittagsmahl eingenommen werden kann;
- überhaupt das Grundgefühl, in ihrer Schule wirklich zu Hause zu sein.
Dies alles und noch vieles mehr macht für sie das Schulleben aus. Das, worum es Julia geht, drückt Dr. Zierer verallgemeinert so aus: „Schule ist nicht nur Lernort, sondern Lebensraum. Dazu gehört der soziale Austausch und deswegen auch das soziale Lernen. Der wichtigste Grund für Schüler, in die Schule zu gehen, ist nicht das Lernen – es sind die Gleichaltrigen.“
John Hattie macht Mut in der Krise und weitet den pädagogischen Blick
Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie erfährt gerade durch die Corona-Krise die volle Bestätigung seiner Forschungsergebnisse (Auswertung von 800 Meta-Analysen), die er in seinem Aufsehen erregenden Buch „Visible Learning“ (zu Deutsch „Lernen sichtbar machen“) dargelegt hat. Denn sein bereits 2013 in deutscher Übersetzung erschienenes Werk hat den Anspruch, die wichtigste Frage aller Bildungsforschung umfassend zu beantworten: Was ist guter und effektiver Unterricht?
John Hattie konnte diese Frage beantworten, weil er den verschiedenen Unterrichtsmethoden und Lernbedingungen Einflussfaktoren zuordnete, die er als „Effektstärken“ bezeichnete. Mit diesen insgesamt 138 Effektstärken konnte er ein Ranking aller für den Lernerfolg wichtigen Einflussfaktoren erstellen. Diese geben einen wirklich interessanten Hinweis darauf, welche von ihnen für sich genommen das Lernen hemmen und welche es fördern. Die Hattie-Studie ergab: „Was Schüler lernen, bestimmt der einzelne Pädagoge. Alle anderen Einflussfaktoren – die materiellen Rahmenbedingungen, die Schulformen oder spezielle Lernmethoden – sind dagegen zweitrangig. Auf den guten Lehrer kommt es also an.“
Interessant ist diese Studie gerade jetzt in Corona-Zeiten. Denn im Ranking der Effektstärken (auch „Hattie-Faktoren“ genannt) nehmen die „Klarheit der Lehrperson“ und die „Lehrer-Schüler-Beziehung mit Platz 8 und Platz 11 somit ganz vordere Plätze ein, die „Klassenführung“ immerhin noch Platz 42. Hattie selbst sagt dazu: „Die Wirksamkeit der positiven Lehrer-Schüler-Beziehung ist entscheidend dafür, dass Lernen stattfinden kann. Zu dieser Beziehung gehört, dass den Lernen gezeigt wird, dass den Lehrpersonen ihr Lernen als Schülerinnen bzw. Schülern wichtig ist… Dann werden die Kräfte zur Entwicklung eines wärmenden sozio-emotionalen Klimas im Klassenzimmer, das fördernde Bemühen und damit das Engagement für alle Lernenden aktiviert.“
Daran kann man sehen, wie der ganze Lernprozess während des Distanzunterrichts leidet – ja leiden muss. Denn die gleiche Hattie-Studie offenbart auch, was gerade von Außenstehenden bisweilen so hochgepriesen wird: die Bedeutung der Digitalisierung und des Homeschooling. Im Ranking der 138 Hattie-Faktoren bekommt der „computergestützte Unterricht“ als Effektstärke lediglich Platz 71, die im Homeschooling vielbeschworene Individualisierung Platz 100 und das „Webbsasierte Lernen“ (Nutzung des Internets) nur Platz 112.
Kommen wir zum Schluss der Diskussion. John Hattie belegt wissenschaftlich, was viele Lehrer tief in ihrem „Pädagogen-Herzen“ längst wissen: Schulische Erziehung geht nur über eine lebendige Beziehung zwischen Schülern und Lehrern. Der Digitalisierung sei Dank, dass Schule derzeit überhaupt stattfinden kann. Dies sollte man durchaus würdigen. Aber allen muss klar sein, dass der momentane digitalisierte Distanzunterricht nur einen „Notfall von Schule“ darstellen kann. Dieser sollte vor dem Hintergrund dieser Ausführungen niemals beschönigt werden. Ich kann nur allen Beteiligten wünschen, dass die Corona-Krise bald abebbt. Was man noch vor einem guten Jahr nicht für möglich gehalten hätte: Die meisten Schüler sehnen sich jetzt nach einem normalen Schulbetrieb und wollen wieder gerne in die Schule gehen – zurecht.
Peter Maier
(Gymnasiallehrer a. D., Jugend-Initiations-Mentor, Autor)
*Natürlich sind mit „Schüler“ stets Schülerinnen und Schüler, mit „Lehrern“ Lehrerinnen und Lehrer und mit „Kollegen“ Kolleginnen und Kollegen gemeint. Ich wollte aber den Artikel nicht unnötig aufblähen.
Peter Maier war 40 Jahre lang Gymnasiallehrer in Bayern und ist am 1. August 2020 pensioniert worden. Seit vielen Jahren arbeitet er auch als Autor.
Homepages zur näheren Information:
www.initiation-erwachsenwerden.de
www.alternative-heilungswege.de
Buch zur Pädagogik:
(1) Peter Maier: „Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“
ISBN: 978-3-95645-659-6 (Epubli Berlin, 2. Auflage 2016, 20,99 €)
eBook: ISBN: 978-3-752956-93-1 (Epubli Berlin 2020, Preis: 12,99 €)
Weitere Infos und Buch-Bezug: www.initiation-erwachsenwerden.de
Bücher zur Lehrergesundheit:
(2) Peter Maier: „Heilung – Plädoyer für eine integrative Medizin“ (Softcover)
ISBN: 978-3-752953-99-2. (Preis: 18,99 €, Epubli Berlin, 1. Auflage 2020)
eBook: ISBN: 978-3-752952-75-9. (Preis: 12,99 €, Epubli Berlin, Erscheinungsdatum: 2020)
(3) Peter Maier: „Heilung – Initiation ins Göttliche“ (Softcover)
ISBN 978-3-95645-313-7 (18,99 €, Epubli Berlin, 2. Auflage 2016)
eBook: ISBN: 978-3-752956-91-7 (11,99 €, Epubli Berlin, Erscheinungsdatum: 27.05. 2020)